Chiara Leone fand den Einstieg zum Schiesssport behutsam. Ihr Vater Nicola nahm sie zwar schon mit neun Jahren an ein Volksschiessen mit. Danach besuchte sie einen J+S-Kurs. Trotzdem blieb der Sport mit dem Kleinkalibergewehr lange ein Hobby unter anderen. Aber das Schiessen faszinierte die Tochter mit italienischstämmigem Vater, und so begann sie intensiver zu trainieren. Ihr Eintritt ins Regionalkader erfolgte mit 16 Jahren eher spät. Damit nahm der kontinuierliche Aufstieg seinen Lauf.
Mit 19 Jahren im SSV-Elitekader
Ihre Maturität erreichte sie in fünf statt vier Jahren via Sportklasse an der Alten Kantonssschule Aarau. Im Alter von 19 Jahren trat sie vom Nachwuchs- direkt ins Elitekader des Schweizer Schiesssportverbandes über. Chiara Leone etablierte sich schnell unter den Top-3-Schützinnen der Schweiz. So fand sie Berücksichtigung für die Sportler-Rekrutenschule 2019/20 in Magglingen. Diese Möglichkeit, den Schiesssport professionell auszuüben, sorgte für einen weiteren Leistungsschub.
Dann sah sich auch das neue Aushängeschild des Aargauer Schiesssportverbandes von Corona ausgebremst. Nach einem halbjährigen Praktikum in der Landwirtschaft erhielt die Fricktalerin vom SSV eine 50-Prozent-Anstellung am Leistungszentrum in Magglingen. Deshalb nahm sie als Wochenaufenthalterin in einer WG mit Kaderkolleginnen Wohnsitz in Biel.
Anfänglich versuchte sie, den Sport mit einem Teilzeitstudium in Lebensmittelwissenschaften zu verbinden. Dieses Vorhaben gab sie auf. «Ich konnte diese beiden Sachen nicht miteinander vereinbaren, weil ich nichts vernachlässigen wollte», erklärt sie dazu. Das entspricht der ruhigen, aber fokussierten Art der Frickerin: keine halben Sachen, sondern volle Konzentration auf ein hohes Ziel.
Steiler internationaler Aufstieg
Die Umstellung auf 100 Prozent Sport zeigte schnell Wirkung. Nebst zwei dritten Plätzen mit dem Schweizer Frauenteam im Weltcup war die Mixed-Bronzemedaille in diesem Frühjahr mit dem Solothurner Jan Lochbihler an der 10m-Europameisterschaft im norwegischen Hamar der bisherige Karrierehöhepunkt. Damit zeigte Chiara Leone, dass ihr hochgesteckter Traum einer Olympiateilnahme 2024 in Paris realistisch ist.
Der Sport füllt die junge Aargauerin zurzeit komplett aus. Täglich trainiert sie am Vormittag während dreieinhalb Stunden im Schiessstand in der Nähe ihres Wohnortes in Biel. Am Nachmittag stehen Trainings für Kraft und Ausdauer sowie für den mentalen Bereich auf dem Programm. «Das sind meist über 25 Stunden pro Woche. Da muss ich schauen, dass die Regeneration nicht zu kurz kommt», erklärt Chiara Leone zu diesem Pensum. Das Schiessen sei kopflastig, deshalb unternehme sie wöchentlich auch eine längere Biketour mit Kaderkolleginnen. «Polysportivität ist wichtig für uns Schützen und bricht die Routine.»
Starke landesinterne Konkurrenz
Nach dem steilen Aufstieg in diesem Frühling an die europäische Spitze kam in den letzten Monaten ein leichter Rückschlag. Die aktuell grösste Konkurrenz steht ihr im Nationalkader gegenüber. Alle pushen ich gegenseitig, was das Niveau fördert. So schiessen nebst Olympiasiegerin Nina Christen weitere Schweizerinnen auf Top-Level. Zwar steht Chiara Leone im Aufgebot für die EM im September im polnischen Wroclaw sowie für die WM im Oktober in Kairo EGY, doch muss sie in einzelnen Disziplinen zurückstehen, weil andere Schweizerinnen zuletzt stärker waren. Immerhin erhält sie in Ägypten die Chance, mit Jan Lochbihler im 10m-Mixedwettkampf wieder auf Medaillenjagd zu gehen. An der EM und WM gehört sie hingegen im 50m-Dreistellungswettkampf nicht zum Schweizer Frauenteam.
Zuerst gilt der Fokus aber den Schweizer Meisterschaften in Thun. Dort hat Chiara Leone am Montag ihren 50m-Titel liegend zu verteidigen. Ambitionen hat sie auch am Dienstag im Dreistellungswettkampf gegen ihre Nationalkaderkolleginnen. Da kann sie an einer Olympiasiegerin Mass nehmen. Danach gehts gleich an die EM nach Polen. (Wolfgang Rytz)