Schweizer Schiesssportverband

«Am Ende mussten wir eine finale Entscheidung treffen»

Head Coach Daniel Burger

Head Coach Daniel Burger

Nina Christen, Chiara Leone, Audrey Gogniat, Christoph Dürr und Jason Solari werden die Schweiz an den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris vertreten. Nicht nominiert wurde die Nachwuchshoffnung Emely Jäggi und der Profi Jan Lochbihler. Im Interview erklärt Head Coach Daniel Burger die Hintergründe dieser Entscheidungen und die hohen Anforderungen an die Athletinnen und Athleten an Olympischen Spielen.

Daniel Burger, nun ist es offiziell: Nina Christen, Chiara Leone, Audrey Gogniat, Christoph Dürr und Jason Solari werden die Schweiz an den Olympischen Sommerspielen in Paris vertreten. Wie schwierig war der Selektionsentscheid?
Daniel Burger
: Wir haben mit dem neuen Quotenplatz-System, welches durch den Weltverband seit 2017 angewendet wird, insgesamt sechs Quotenplätze geholt. Das war eine ganze andere Ausgangslage als noch vor Tokyo 2021. Vor allem die Frauen Gewehr haben alle Erwartungen übertroffen – das ist einmalig.

Welche Entscheidung war die schwierigste?
Die schwierigste Entscheidung war definitiv bei den Frauen im Gewehr 50m. Wir haben mit Nina Christen, Chiara Leone und Emely Jäggi drei Athletinnen auf Weltklasseniveau. Es war eine sehr intensive Diskussion im Selektionsgremium, bei der wir alle möglichen Szenarien mehrmals durchgespielt haben. Am Ende mussten wir eine finale Entscheidung treffen.

Warum haben Sie Chiara Leone den Vorzug vor Emely Jäggi gegeben?
Chiara Leone ist die amtierende Europameisterin im Dreistellungsmatch über 50 Meter. In Osijek wusste sie, dass es die letzte Möglichkeit ist, einen Quotenplatz zu sichern. Sie musste also ganz nach vorne kommen musste. Und unter diesem Druck lieferte sie eine herausragende Darbietung ab, wo sie die Qualifikation gewann und den Final überlegen für sich entschied. Der Vorsprung in der Qualifikation mit drei Punkten auf Rang zwei ist im Schiesssport eine Weltreise. Überhaupt hat sie in diesem Jahr konstant hervorragende Leistungen abgeliefert. Ihre Professionalität ist auf einem unglaublich hohen Niveau, was besonders bei den Olympischen Spielen entscheidend ist. Da kommt Gewaltiges auf die Athletinnen zu.

Nina Christen ist unsere Olympiasiegerin von Tokio. Dennoch: Was sprach nun konkret erneut für sie?
Nun, Nina Christen ist, wenn man die letzten 8 Jahre betrachtet, die erfolgreichste Athletin, die die Schweiz je hatte. Aber selbstverständlich darf man auch an ihr rütteln. Das haben wir auch gemacht im Selektionsgremium. Wir haben alles auseinandergenommen: Kann sie nochmals ganz nach vorne kommen? Nina ist im internen Olympia-Ranking vorne. Ihre sehr guten Resultate hat sie 2023 erreicht, wo sie den Weltcup in Kairo gewonnen und an der WM nur knapp den dritten Rang verpasst hat. Aber auch dieses Jahr im Mai mit dem zweiten Rang am Weltcup in Baku hat sie ihre gute Form unter Beweis gestellt. Nina hat Biss, Siegeswillen und Cleverness. Und sie hat die Fähigkeit, all dies dann einzusetzen, wenn es wirklich zählt. Hinzu kommt, dass Nina eine der besten Windschützinnen auf der ganzen Welt ist. Und genau solche schwierigen Verhältnisse werden wir in Châteauroux haben, wo die Schiesswettbewerbe stattfinden.

Emely Jäggi wurde nun nicht selektioniert, obwohl sie als Riesentalent gilt und als erst 15-Jährige mit einem dritten Weltcup-Rang für Aufsehen sorgte.
Ich habe noch nie in meinem Leben eine so talentierte Athletin erlebt. Sie ist gerade mal 15 Jahre alt und bringt neben ihrem enormen Talent auch eine unglaubliche Arbeitsmoral mit. Für ihr Alter hat sie ein Mindset, das sehr speziell ist. So etwas habe ich in über 40 Jahren Erfahrung noch nie gesehen. Emely ist ein Game-Changer, der das gesamte Team besser gemacht hat. Sie wird ihren Weg machen, davon bin ich überzeugt.

Warum wurde Emely Jäggi trotz ihres Talents nicht für die Olympischen Spiele selektioniert?
Wir gehen jetzt an einen Schiessanlass, der sehr, sehr schwierig ist. Wie vorher dargelegt, war es ein Entscheid unter rein sportlichen Gesichtspunkten, die am Ende für Nina Christen und Chiara Leone sprachen. Trotzdem kommt etwas hinzu: Wir tragen auch eine ethische Verantwortung für die Athletinnen – gerade für eine so junge wie Emely Jäggi.

Ethische Verantwortung? Was meinen Sie genau damit?
Wir haben als Verband, zusammen mit Swiss Olympic, einen Ethikauftrag. Es geht darum, die Athleten vor dem enormen Druck und der Dynamik, die durch Medien und Öffentlichkeit entstehen können, zu schützen. Es kann ein Hype entstehen, diese Erfahrung mussten wir bei Nina Christen nach Tokyo 2021 machen. Als Verband kannst du dann die Athletin nur bedingt schützen. Deshalb waren wir uns im Selektionsgremium einstimmig einig, dass es zum jetzigen Zeitpunkt noch zu früh für Emely ist, bei den Olympischen Spielen dabei zu sein.

Noch ein Wort zu Audrey Gogniat, die – zusammen mit Nina Christen - für den Luftgewehr-Wettbewerb selektioniert wurde. Hier war der Entscheid weniger schwierig, korrekt?
Ja, Audrey hat bei ihrer ersten WM als Elite-Schützin in Baku im 10m-Wettkampf den sechsten Rang belegt. An der EM in Györ wurde sie Dritte.  Audrey ist absolut in der Lage, an einem guten Tag, auch in Châteauroux ganz vorne mitzuschiessen. Ich habe grosse Erwartungen an sie. Nina Christen war ein klarer Fall. Sie hat die European Games letztes Jahr überzeugend gewonnen und den Quotenplatz geholt. Dass sie in den Disziplinen eingesetzt wird, in denen sie in Tokio Bronze gewonnen hat, ist nur logisch.

Nun zu den Männern: Hier hat Christoph Dürr den Vorzug vor Jan Lochbihler erhalten. Warum?
Bei den Männern hatten wir zwei Athleten, die von den Ergebnissen her fast gleichauf lagen. Christoph Dürr hatte jedoch die Nase ganz leicht vorne. Er wurde Fünfter bei der Weltmeisterschaft und hat den Quotenplatz für Paris gesichert. Bei den Zusatzkriterien schnitt Christoph ebenfalls eine Spur besser ab. Konkret bedeutet das, dass er einen Hauch mehr Potenzial hat, wenn es hart auf hart kommt. Jan Lochbihler ist einer der besten Schützen, den wir in der Schweiz je hatten. Er ist ein ganz feiner Mensch, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet habe. Es tut mir persönlich sehr leid, dass er nicht selektioniert wurde. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass Christoph es wirklich verdient hat. 
Es gibt jedoch einen kleinen Hoffnungsschimmer für Jan.

Was meinen Sie genau?
Jan ist momentan der erste in der Weltrangliste, der keinen Quotenplatz hat. Nun müssen noch die letzten Nationen ihre Quotenplätze bestätigen. Es ist also möglich, dass eine Nation einen Quotenplatz zurückgibt, weil sie nicht jeden Platz besetzen können. Von daher besteht zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass Jan via World Ranking doch noch einen Quotenplatz zugesprochen erhält. Sollte dieser Fall eintreffen, würde Jan auch selektioniert werden.

Bei Pistolen-Schütze Jason Solari war die Selektion ein glasklarer Fall, oder?
Ja, es gibt in der Schweiz keinen anderen Luftpistolen-Schützen, der die Selektionskriterien erfüllt wie er. Bei ihm ging es höchstens darum, ob er diese auch bestätigen konnte. Und das hat er mit seinem vierten Rang bei der Europameisterschaft. Jason hat alle Qualitäten, um ein Olympia-Diplom zu gewinnen. Bei einem sehr guten Verlauf könnte er vielleicht sogar eine Medaille holen.

Welche Erwartungen haben Sie für die Olympischen Spiele in Paris?
Unsere Erwartung ist ganz klar, an die erfolgreichen Olympischen Spiele in Rio und Tokio anzuknüpfen. Das Team hat hohe Ansprüche an sich selbst, und wir haben hart gearbeitet, um uns optimal vorzubereiten. Zweifel und Unsicherheiten gibt es immer. Die immense Arbeit wollen wir nun jedoch mit grosser Leichtigkeit, Positivität und Freude abgeschlossen werden. Wir haben alles dafür getan, dass das Momentum auf unserer Seite stehen wird. Wir sind überzeugt, dass wir in Paris erfolgreich sein können.

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